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Stilistische Vielfalt

Jede einzelne Orgel ist ein Unikat, ein Individuum mit eigenem Charakter, Stärken und Schwächen. Und sie ist immer ein Zeugnis einer stilistischen Epoche, eines Zeitgeistes, nationaler Traditionen und Vorlieben.

Wenn man an ein unbekanntes Instrument eingeladen wird, informiert man sich bereits im Vorfeld zu Aspekten dieser Orgel, die eine Vorstellung davon ermöglichen, welche Musik dort realisierbar ist. Die Bauzeit und der Orgelbauer, etwaige Veränderungen oder Restaurationen, die Disposition (=Übersicht über die vorhandenen Register), der Standort, all dies sind Dinge, die fundamental über den Klangcharakter und die stilistischen Möglichkeiten eines Instrumentes entscheiden.

Die Orgeln selbst sind die besten Lehrmeister für die Musik ihrer Zeit und ihrer Region – wenn man ihnen aufmerksam zuhört, kann man sehr viel darüber lernen, was die jeweilige Musik zu dem macht, was sie ist, und wie man sie „anzupacken“ hat.

Wenn dann das Programm geschrieben ist, die Werke festgelegt sind, die man im Konzert vortragen wird, bleibt der spannende Moment des „persönlichen“ Kennenlernens der Orgel, das Hören der einzelnen Register, das Ausprobieren und „Einregistrieren“: Das Einrichten der einstudierten Musik für dieses spezielle, einzigartige Instrument. Jede einzelne Klangveränderung, jede Stufe eines Crescendos oder Decrescendos wird einzeln ausgehört und festgelegt, um sich im Konzert dann zu einer Einheit zusammenzufügen.

Es versteht sich daher von selbst, dass ich jedes Programm individuell für die jeweilige Orgel konzipiere, stilistisch richte ich mich nach den örtlichen Gegebenheiten und den Möglichkeiten der Orgel. Trotzdem kann es selbstverständlich auch reizvoll sein, „Stilbrüche“ zu wagen – Neue Musik auf barocken Orgeln zu spielen oder barocke Musik auf einem spätromantischen Instrument. Dies geschieht aber nur dann, wenn ich mir sicher bin, dass ich dies gegenüber der Musik und dem Instrument verantworten kann, ohne allzu grundlegend in ihren Charakter eingreifen zu müssen.

Außerdem spielen auch Faktoren wie Kirchenjahr, Jahreszeit oder einfach die generelle Stimmung des Konzertdatums bei der Konzeption meiner Konzertprogramme mit – niemand möchte ein Weihnachtsstück im Juni hören – oder Wünsche des Veranstalters zu einem bestimmten Thema.

Jedes Programm ist also ebenso wie die Orgel, auf der es erklingt, ein „Unikat“ – und ich freue mich, zu den unterschiedlichsten Themen spannende Musik zusammenstellen zu dürfen und auf diese Weise selbst immer wieder Neues kennen zu lernen und zu entdecken.

Dass aus Blättern voll von Notenzeichen
solche weitgeschwungenen, geistdurchsonnten,
solche Welt- und Sternenchöre werden konnten,
dass ein Orgelpfeifenchor sie in sich banne,
ist es nicht ein Wunder ohnegleichen?

Hermann Hesse (1877-1962)

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